Am 23.12.2017 um 09:49 schrieb Paul Hänsch:
On Thu, Dec 21, 2017 at 04:48:50PM +0100, Jochen Schmitt wrote:
bei blinden Benutzer ist es so, dass sie in der Regel eine Sprachausgabe benutzen, da die Informationsaufnahme über eine Sprachausgabe deutlich rascher vonstatten geht, als über eine Braillezeile. Hierzu werden spezielle Screenreader, wie VoiceOver, JAWS oder die freie Software NVDA benutzt. Als Browser kommen die normalen Browser in Einsatz, welche auch von sehenden Personen benutzt werden.
Danke für die Beschreibung, meine Vorstellung hierzu war nur grob, und zudem veraltet.
Hast du Informationen dazu, was für Einschränkungen außerdem noch Hindernisse in der täglichen Arbei mit Webseiten darstellen können? Das erste woran wir denken sind immer Augenprobleme, wie stark fällt es aber im Allag ins gewicht, wenn ich z.B. - Maus, Tastatur oder Touchscreen jeweils nicht bequem nutzen kann? - nicht hören kann (Inhalte in Videos scheinen häufiger zu werden)? - Probleme mit Farbwechseln / Bewegtbildern habe, die in der Nähe der Inhalte auftauchen? - was für Probleme kann es noch geben?
Hat jemand Informationen dazu, wie hoch die Frustrate bei den jeweiligen Personengruppen derzeit ist? Kann jemand beschreiben wie man unter den jeweiligen Randbedingungen das Internet nutzt?
Nun, ich bin selbst (er)taub(t) und habe außerdem gerade ein Gutachten über die alltägliche Nutzung digitaler Technologie durch Menschen mit Behinderungen geschrieben. Dazu haben wir Nutzer*innen mit unterschiedlichen Behinderungen (Einschränkungen beim Sehen, beim Hören, bei der Beweglichkeit, beim Lernen) befragt. Wie leider immer, wenn es (in Deutschland) um Behinderung/Barrieren/Barrierefreiheit geht stellt die Lage sich kompliziert dar (was ich persönlich unglaublich frustrierend finden).
Ein paar Ergebnisse (mehr sehr gerne, aber nur auf Nachfrage, ich will nicht durch Textwüsten nerven):
- Den größten Frust in Bezug auf Webseiten und entsprechende Apps schieben derzeit Sehbehinderte und Blinde: Viele Webseiten sind so komplex, dass sie selbst wenn ein Screenreader sie (technisch) erfassen kann, kaum lesbar (heißt in diesem Fall: per Hören verstehbar) und navigierbar sind. Gut gemeinte Vorlesefunktionen auf den Seiten selbst kollidieren mit dem Screenreader, Captchas sind nicht erfassbar, Editoren nicht oder nur schlecht bedienbar usw.
- Für Hörgeschädigte kommt es sehr darauf an, wie gut sie der Schriftsprache mächtig sind: Wer Deutsch und/oder Englisch gut lesen und verstehen kann, kommt halbwegs klar. Die Tonqualität vieler Videos ist allerdings grauslich, automatisch erzeugte Untertitel sind oftmals lustig, aber nicht verständlich (Englisch funktioniert besser als Deutsch, aber auch längst nicht einwandfrei). Wer allerdings nur oder hauptsächlich Gebärdensprache kann, ist völlig aufgeschmissen. Denn selbst dort, wo es Videos in Gebärdensprache gibt, enthalten diese oft wenig bis keine Inhalte (die Produktion ist aufwändig). Stattdessen wird häufig nur die Navigation der Website erklärt (die in der Regel aber offensichtlich ist).
- Bei Menschen mit motorischen Einschränkungen geht es in der Regel mehr um die Frage der Eingabegeräte bzw. der generellen Kompatibilität von Browser, BS und diesen Geräten (auch keine Selbstverständlichkeit, insbesondere bei Spielen).
- Menschen mit Lernschwierigkeiten kämpfen oftmals sowohl mit Schriftsprache als auch mit zu komplexen Seiten. Bei ihnen ist das Frustpotential auch sehr groß, allerdings gibt es in dieser Gruppe bisher nur einen wohl relativ kleinen Teil der überhaupt Internetzugang hat.
Die zunehmende Appifizierung macht die Lage technisch noch komplizierter. Eine generelle Einschätzung ist hier aber schwierig.
Allerdings gibt es auch hilfreiche Dinge:
- Die Einhaltung der W3C Accessibility Guidelines 2.0 [1] befördert die Zugänglichkeit von Webseiten enorm.
- Aktion Mensch hat eine ganze Reihe von Hilfen für ein barrierefreies Internet zusammengestellt [2], darunter z.B. die deutsche Übersetzung der W3C Guidelines. Vieles scheint nicht völlig auf der Höhe der Zeit zu sein und manches auch kritikwürdig (so fing dieser Thread ja an), aber es gibt diese Hilfen. Ähnlich auch die vom BMAS geförderte Seite: "Barrierefrei informieren und kommunizieren – für alle" [3].
- Der DBSV informiert [4] u.a. über "Inklusives Kommunikationsdesign" [5].
- usw.
Was bei den Befragungen aber auch klar wurde: Es fehlt zum einen an einem allgemeinen Bewusstsein, bei Entwickler*innen und Designer*innen (und auch Auftraggeber*innen) im weitesten Sinne, dass so es etwas wie "Barrierefreiheit" oder auch "Design für alle" überhaupt gibt/geben sollte und warum. Zum anderen ist es - in der Praxis - häufig schwierig, geeignete Nutzer*innen/Tester*innen (= Menschen mit Behinderungen) zu finden.
Soweit erst einmal. Wie gesagt: Bei Interesse gerne mehr!
Schöne Feiertage! Irmhild
[1] https://www.w3.org/WAI/intro/wcag [2] https://www.einfach-fuer-alle.de/ [3] http://bik-fuer-alle.de/barrierefreiheit-umsetzen.html [4] https://www.dbsv.org/broschueren.html#barrierefreiheit [5] https://www.dbsv.org/broschueren.html?file=files/ueber-dbsv/publikationen/br...