Hallo Kristian,
um zu antworten muss ich teilweise etwas ausholen. Alle folgenden Antworten sind zwar nicht mal eben so dahingeschrieben, aber bitte als "Arbeitsthesen" zu verstehen (dies nur als "Versicherung", weil es immer etwas heikel ist, auf Mailinglisten ins Plaudern zu kommen).
On 5/14/20 8:14 PM, Kristian Rink wrote:
kurze Dinge, um das von der Länge her einzufangen: An vielen Punkten stimme ich Dir zu, an anderen glaube ich zwar nicht, dass Du falsch liegst, habe aber einen anderen Standpunkt.
Ja, gut, damit kann ich selbstverständlich Leben. Ich fand den Austausch dennoch (oder gerade deswegen) gut, weil es immer gut ist, Einblick in andere Lebenswirklichkeiten zu bekommen.
Das wollte ich auch *Dir* nicht unterstellen; entschuldige, wenn das falsch ankam. Meine Darstellung war (wie alles andere) sehr klar subjektiv. Ich habe in meinem Umfeld viele Leute erlebt, auf die das leider genau trifft: Die Snowden-Enthüllungen wurden genutzt, eine pauschale und unreflektierte Positionierung contra Polizei, contra Geheimdienste, contra USA zu festigen. Kritik halte ich für wichtig, aber *unreflektierte* Gemeinplätze helfen in diesen diffizilen Themen leider nicht.
OK, verstehe, danke für die Erklärung. Mit "pauschal" meinst Du evtl. Forderungen wie "Geheimdienste abschaffen!". Was Deine Forderung nach "reflektierter Kritik" betrifft habe ich folgende Gedanken: Es ist eine Herausforderung, den kümmerlichen Rest derer, die hier überhaupt ein Problem sehen, unter einem Motto auf die Straße zu bekommen, das reflektiert ist und von bisher Unbeteiligten hinsichtlich der komplexen Thematik verstanden werden kann. Beidem steht die Komplexität der Debatte erstmal entgegen, was natürlich keine Ausrede sein darf. Es war allerdings sicher einfacher, einen Konsens dafür zu finden, die "Stasi-Zentrale" zu stürmen, weil das "Feindbild" hier klarer war, was wiederum darauf zurückzuführen ist, dass das Regime sich klass. "hard power" bediente, weswegen es eindeutiger beschuldigt werden konnte. Neoliberale Regime sind im Vergleich dazu "smart" - sie "diffundieren" ihr handeln in kaum noch plausibel nachweisbare bzw. verstehbare Verantwortungszusammenhänge und verführen Freiheit anstatt sie zu unterdrücken (der Umstand, dass es Unternehmen gibt, bei denen man Graswurzelbewegungen kaufen kann (bspw. Burson-Marsteller), was sich dann "Astro-Turfing" nennt, hat für mich einen ganz neuen Blick auf die vielen "Frühlings-Bewegungen" der jüngeren Vergangenheit geworfen). Gegen verführte Freiheit hat unser psychologisches Immunsystem keine natürlichen Abwehrkräfte, weswegen ich den Begriff "Wutbürger" zwar immernoch völlig daneben, aber insofern etwas Wahres abgewinnen kann, als für mich "Wut" im Gegensatz zum "Zorn" selten ein bestimmtes Objekt hat (das in neoliberalen Systemen schwer zu identifizieren ist). Es liegt jedenfalls an denen, die meinen, mehr Durchblick zu haben, die berechtigten Objekte von den unberechtigten zu trennen und niedrigschwellig zu vermitteln ("Wut" also wenn dann in "Zorn" zu wandeln) - und hier wird es unspaßig, weil das richtig viel Arbeit bedeutet (und damit Zeit oder Geld kostet), die wir uns selten nehmen können (noch dazu vor dem Hintergrund, sich in Themen zu verrennen, die uns gesellschaftliche disqualifizieren können - vor Snowden war das, was Snowden offenbarte, ja etwas für "Aluhut-Träger*innen", das in keiner ernsthaften Debatte angesprochen werden konnte). Unter diesen Voraussetzungen finde ich es jedenfalls erstmal verständlich, warum einfache Wahrheiten so viel attraktiver sind als komplexe und empfinde als immense Herausforderung, einer Spaltung der Gesellschaft entgegenzuwirken, die irgendwie zwischen einfachen Wahrheiten auf der einen Seite und komplexeren, aber selten niedrigschwellig vermittelten, polarisiert ist. publiccode.eu ist für mich ein Beispiel wie es besser geht - es ist eine Meisterleistung, ein so komplexes Thema in nichtmal 5min zu vermitteln.
Das meinte ich nicht. Was ich meinte: Deine Darlegung beinhaltete, dass Du Dich im Umgang mit dem "Kleinkriminellen" (siehe Bankräuber) implizit auf das Mitwirken von Institutionen und größeren Autoritäten (der Bank) verläßt - denen Du an anderer Stelle sehr explizit Dein Vertrauen entzogen hast. Das wirkt zumindest unentschlossen.
Achso, dann nochmal anders: Ilu hat es bereits prägnanter ausgedrückt als ich es konnte, aber kurz: Geht der juristische Einspruch "nach oben", wirkt das Rechtssystem meinem Empfinden nach nicht *für* mich, sondern *gegen* mich. Wir haben hier meiner Meinung nach ein System, das darauf ausgelegt ist, beständig "nach unten zu treten" (Außnahmen bestätigen die Regel, es muss ja alles den Eindruck behalten, dass es theoretisch auch in die andere Richtung geht - so in der Art wie "jede*r kann Millionär werden" den Anschein von "alle können Millionär werden" erwecken soll, damit die "Tellerwäscher*innen" brav weiter ihren Job machen).Der Punkt ist nun der, dass ich natürlich auf Banken angewiesen bin, weil ich in ein System, das auf Banken angewiesen ist, hineingeboren wurde. Ich habe durchaus mal gefragt, ob ich mein Gehalt auch bar empfangen darf mit dem Ziel, meine Miete etc. ausschließlich bar zu zahlen und dann erfahren, dass ich dafür unterschrieben habe, darauf zu verzichten, weswegen ich das Experiment "Recht auf Barzahlung" dann auf unbestimmte Zeit verschoben habe. Wenn mich "Cyber-Kleinkriminelle" ausrauben, nutze ich also die juristischen Mittel so wie sie "nach unten" gedacht sind (böse formuliert: den Pöbel von den kümmerlichen Ansätzen jener kriminellen Machenschaften abzuhalten, die sich eine Finanz-Elite mit Panama&Co ständig erlaubt). Das ist hat für mich weniger etwas mit Unentschlossenheit und mehr damit zu tun, "Kollaborateur" zu sein, weil ich hier den Umstand ausnutze, dass ein System den Anschein bewahren will, *allgemein* für Recht, Ordnung und Chancengleichheit zu sorgen. Das muss ich, um nur bei diesem Beispiel zu bleiben, so lange tun, bis ich einen Weg gefunden habe, mich von der Abhängigkeit von Banken zu lösen und trotzdem gesellschaftsfähig zu bleiben (denn auszuwandern ist keine Lösung, wohin auch, wenn jeder Flecken Erde bereits irgendeinem Herrschaftssystem gehört, das im Prinzip gleich tickt). Ich bin diesbezüglich für Vorschläge dankbar, die "entschlossener" sind. ;)
Mein größtes Problem mit Deiner Argumentation ist: Mir fällt es schwer zu verstehen, was Du eigentlich erreichen willst, weil Du (für meine Wahrnehmung) mäandrierst zwischen "Sicherheitsargumenten" (der Verweis auf Snowden und die Folgen), "Freiheit" (siehe hier) und der Frage nach der Unterstützung von Monopolisten und Industrie.
Ich gebe zu, dass "Snowden" für mich anfangs eine Sicherheitsdebatte war ("sicher sein vor Überwachung"). Mittlerweile ist für mich die dahinterliegende Problematik aber eine reine Freiheits- und Machtfrage: Wer kontrolliert den digitalen Raum? FLOSS ist für mich ein kleiner, wenn auch langfristig natürlich unzureichender Ansatz, diese Machtfrage zugunsten einer freiheitlichen Zivilgesellschaft zu klären.
Die Diskussion begann mit Microsoft und Co. ... und der Punkt war: In bestimmten Bereichen macht Microsoft (wie auch Amazon oder Google) derzeit eher Hardware-Lieferanten als Software-Lieferanten oder FLOSS Konkurrenz: Auf Azure, AWS, ... kann ich mir mit wenig Aufwand, sagen wir, eine Debian-VM hochziehen, auf der ich NextCloud, Matrix, OnlyOffice baue, ein Login via root-ssh habe und dort nichtmal einen Vendor-Lock-In habe, weil ich (Abstraktions-Ebene VM respektive "unterhalb Betriebssystem") diese Dienste denkbar leicht auf anderen Anbieter (vielleicht DigitalOcean, Ionos, eine lokale Genossenschaft, eigenes Blech) umziehen kann.
Aus Sicht der Freiheit fehlt mir hier die Perspektive, wo mich das einschränkt - außer bei Connectivity (die ist aber privat auch black-box) und Hardware (die wir im Verlauf schon als proprietär und unkontrollierbar abgeschrieben hatten).
Die Einschränkung erfolgt so lange nicht wie Du mit dem, was du auf der Hardware, die dir nicht gehört, ins Geschäftsmodell passt. Konzepte und Ideen, die sich diesen klassischen "Verwertungsimperativen" wirklich entziehen wollen, haben hier keinen Raum (schon allein deswegen, weil sie die Dienste evtl. nicht bezahlen können) - sollen sie auch nicht in einer Gesellschaft, die mit "Freiheit" im Zweifel immer erstmal eine "Freiheit des Marktes" meint. Solange man sich in dieser Freiheit arrangieren kann ist das sicher keine Einschränkung. Der Punkt ist, was passiert, wenn man sich mit dieser Freiheit plötzlich nicht mehr arrangieren kann. Dann ist die Kette bereits fest installiert.
Aus Sicht von Vertrauen (*will* ich meine Daten, egal ob VM oder anders) bei Microsoft liegen haben??) oder Unterstützung von Monopolisten ("alle Welt nutzt AWS") sieht die Wertung gänzlich anders aus. Und ich scheitere daran, zu verstehen, was genau Deine Prioritäten sind, was Dein Ziel ist... ;)
Gut gefragt, denn die Frage ist in dieser Form weniger geschlossen als die, mit der viele von uns sicher aufgewachsen sind ("Was willst du denn später mal werden?") und lässt die meiner Meinung nach viel sinnvollere Frage zu, die Menschen gestellt werden sollte: "Welches Problem möchte ich helfen, in der Welt zu lösen?" - und hier wäre meine Antwort: Jede Generation musste sich vor der nachfolgenden für ein bestimmtes Versagen rechtfertigen. Klassisches Beispiel: Unsere Großeltern vor unseren Eltern bezüglich des 3. Reiches. Jemand mit Eltern aus der ehem. DDR könnte sie vielleicht fragen, warum sie eine historisch einmalige Chance auf eine neue Freiheit für 100 Mark Begrüßungsgeld verkauft haben. Eine Frage, die ich von der nachfolgenden Generation an mich erwarte, ist: Wie konntet ihr zulassen, dass der digitale Raum in seiner ursprünglichen Form wie Snowden sie beschreibt ("creative and cooperative, rather than commercial and competitive" [1]) zu einem Raum des Überwachungskapitalismus wurde und ihr eure Häuser freiwillig mit Alexa verwanzt, wenn eure Eltern vorher die Stasi-Zentrale gestürmt haben oder gegen die Volkszählung demonstrierten? Snowden war für mich persönlich nur ein Augenöffner für die eigentliche Machtfrage um Kontrolle von Menschen, die dahinter steht. Ich möchte jedenfalls vor der nachfolgenden Generation sagen können, alles getan zu haben, um diese Entwicklung zu verhindern.
Auf jeden Fall gerät der Freiheitsgewinn von FLOSS hier an seine Grenzen, weil FLOSS auch nur ein Mittel wird, User an sich zu binden (danke für Deinen Input diesbezüglich, der mir diesen Umstand konkretisiert hat). An diesem Punkt befindet sich gerade mein Versuch, weiterzudenken (ich denke bspw. aktuell darüber nach, welche Parallelen es zur Entwicklung des digitalen Raumes zur Industrialisierung im 18. Jh. gibt, die meines Wissens mit einer Privatisierung des Allmende-Besitzes einherging, was die Menschen damals in jene Abhängigkeit von Industruiellen trieb, die Ähnlichkeit zu jender Abhängigkeit von IT-Monopolisten hat, in der sich Menschen heute befinden). Keine Ahnung, wo es hinführt, die Diskussion hier ist auf jeden Fall aber sehr bereichernd.
Gruß Roland [1] https://www.repubblica.it/esteri/2019/09/13/news/roberto_saviano_edward_snow...